bleib einfach wo du bist!

Es gibt viele Gründe dafür das Haus zu verlassen und in die Welt hinaus zu ziehen. Sehr wichtige Gründe sind zum Beispiel der Erwerb von Lebensmitteln (Wurst, etc.), Alkohol und Zigaretten. Das waren eigentlich schon alle Gründe. Arztbesuche, Apotheke oder Arbeit sind keine triftigen Gründe, denn es geht auch ganz gut ohne diese Institutionen. Mehrere Studien haben dies bereits bewiesen. Ab und zu sollte man das häusliche Umfeld aber dennoch verlassen, um einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Das ist gut für das Gemüt und beugt Thrombosen vor. Auf Sport jedweder Art sollte jedoch verzichtet werden, weil es meist sehr dämlich aussieht, wenn man, in bescheuerte Funktionskleidung gepresst, über den Asphalt humpelt, nur weil irgendeine App dann die Seiten “sozialer” Netzwerke mit der jeweiligen Leistung zumüllt. Soetwas ist vollkommen unnötig und schädigt der Gesundheit mehr, als Mikroplastik und Passivrauchen. Die Gründe, die für ein Daheimbleiben sprechen, überwiegen. Ein altes Sprichwort will uns lehren: trautes Heim, Glück allein. Recht hat es! Reisen, Wochenendausflüge und Städtetrips sollten tunlichst vermieden werden. Auch das hat Gründe, die ich sorgfältig zusammengetragen habe und Dir, lieber Leser, nun präsentieren möchte.

Flugscham ist eine schlimme Sache, denn sie hält den Menschen nicht vom Fliegen ab. Viel schlimmer noch, er versucht sein Fehlverhalten mit dem Kauf fair produzierter Schuhe zu kompensieren. Er kauft am besten gleich fünf Paar, wobei ihm zwei Paar nicht richtig passen und die anderen drei ihm Blasen scheuern. Man merke an, auch nachhaltiger Konsum ist Konsum. Weiterhin sollte weder mit dem Auto, noch mit dem Zug verreist werden, denn es führt dazu, dass man unnötig die Rastplatztoiletten zuscheißt oder andere Reisende mit seiner Existenz belästigt. Wenn man nicht mit dem Zug verreist, dann braucht man keine Reservierung und muss sich nicht mit den Idioten rumärgern, die partout nicht vom reservierten Platz weichen wollen. Man muss auch nicht stehen, wenn man mal keine Reservierung gemacht hat. Man braucht keine Wanderschuhe, keine Luft im Fahrradreifen, kein Benzin, kein Kerosin, kein Billett und auch kein Lunchpaket. Man kann nur sparen und sein Geld für Wichtigeres ausgeben. Den grössten Vorteil des Nichtverreisens habe ich bereits kurz erwähnt. Wer zuhause bleibt, muss sich nicht mit anderen, mitunter sehr unangenehmen Menschen, abgeben. Denn, sein wir mal ehrlich, das Klientel an den Flughäfen und Bahnhöfen unserer zivilisierten Welt, ist einfach zum Kotzen. Überall Businessärsche und Wichtigtuer und hier und da ein paar Backpacker, die auch kein Deut besser sind, als die anderen Arschkrampen. Ich reise, ergo sum. All diese Geschäftsreisen haben noch nie einem Menschen irgendetwas gebracht, ausser Elend und Leid. Die Putzfrauen dieser Erde müssen die Bahnhofs- und Flughafenklos mühsam vom zähen Kot verschissener Geschäftsleuten reinigen. Dabei büßen sie bis zu zehn Jahre ihrer Lebenserwartung ein, da die verdauten Reste von Flugzeugfraß und Bordbistrosnacks zu einer hoch giftigen Masse im Darm eines Businesstrottels heranwachsen. Für Putzfrauen gibt es in unserer Welt keine Solidarität. Stewardessen müssen sich mit den spleenigen Wünschen von Zwangsneurotikern abmühen und hängen am Ende des Tages mit dem Piloten an ein und derselben Flasche. Sind die Geschäftsreisenden erstmal an ihrem Ziel angekommen, geht es dort weiter. Wieder werden Toiletten zugekackt, ohne Rücksicht auf denjenigen, der sie reinigen muss. Ich spreche aus Erfahrung und kann bestätigen, dass die WCs von den feinsten Businessmännern, am dreckigsten hinterlassen werden. Ihren ganzen Frust entladen sie auf den Klos ihrer Hotels. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen und mit meinen eigenen Händen entfernen müssen. Nicht schön. Geschäftsreisende sind also ein grosses Übel.

Ein weiters, grosses Übel sind Urlauber, Kurztripper und Backpacker. Sie bereisen den Globus oder Naherholungsgebiete, um sich zu entspannen, zu unterhalten, zu bilden, oder um Selfies zu machen. All diese Gründe sind jedoch ungültig. Entspannen kann man am besten daheim. Optimalerweise mit Bier oder Likör vor dem Fernseher. Wer mag darf auch ein Buch lesen. Wichtig ist jedoch: den Alkohol nicht vergessen! Dann und wann empfiehlt sich ein Entspannungsbad und Masturbation. Dies regt den Kreislauf an und sorgt für die nötige Hygiene. Reisestress wird um ein Maximum verringert, der Geist befreit sich von allem Übel. Die örtliche Bibliothek bietet ein umfangreiches Angebot an Material, welches der geistigen Bildung tausendmal dienlicher ist, als jede Reise. Warum sollte man an einen Ort fahren, wo die Menschen einem feindlich gesinnt sind und es kaum abwarten können, dass man wieder geht? Der Tourismus muss überwunden werden! Warum sollte man die “Locals” rücksichtslos mit seiner Anwesenheit nerven? Ihre Nettigkeit ist durch finanzielle Interessen motiviert. Sie sind gezwungen dir irgendetwas zu verkaufen, zu zeigen, dich willkommen zu heissen. Kühlschrankmagente, Handtücher, Stoffbeutel mit Ortsnamen und anderen Tand als Mitbringsel für die Daheimgebliebenen, die den Schrott dann entsorgen müssen. Wofür?! Touristen wollen, dass man ihnen tief in den Arsch kriecht und dabei auch noch schön lächelt, damit man nächstes Jahr wieder kommt. Warum in eine Stadt, an einen Ort reisen, nur um dann dort ein Selfie zu machen, weil andere es auch schon taten? Eine Sehenswürdigkeit wird durch das Hinzufügen der eigenen Visage nicht aufgewertet. Vielmehr ist dies doch eine Beleidigung dessen, was da im Hintergrund sichtbar ist. Wenn der Eiffelturm kotzen könnte, er würde es tun. Und zwar mehrmals täglich. Ich lehne Selfies ab, weil ich mir meiner sehenswürdigkeitsentwertenden Erscheinung bewusst bin.

Auch ganz schlimm sind Individualreisende. Sie fühlen sich den Pauschalreisenden moralisch überlegen, weil sie sich intensiv mit Land und Leuten auseinander setzen und fremde Kulturen kennenlernen wollen. Das ist aber zumeist Quatsch, da man doch nur die Klischees wiederentdeckt, die einem eh schon lange durch den Kopf geistern. Sinnlos also. Buch lesen, das bringt mehr. Oder TV glotzen. Wozu sonst haben sich unzählige Fernsehleute auf weite und gefährliche Reisen begeben und ihr Leben für tolle Bilder riskiert, nur damit ihr es ihnen dann gleich tut? Bleib´ daheim, bleib´ daheim! Mach´ dir ein, zwei oder sieben Bier auf, schalt´ die Glotze ein, leg´ die Füsse hoch und geniesse! Lass den Flughafen Flughafen sein, meide zügige Bahnhöfe, setze dich nicht ins Auto und fahre in keinen Stau, sondern geniesse die Stunden die dir noch bleiben. Lass den Ägyptern ihre Pyramiden, den Pragern ihr Bier, den Chinesen ihre Mauer, den Gauchos ihre Rinder und den Eskimos ihr Eis. Nerve nicht deine Mitmenschen im Zug, im Flugzeug, am Strand oder auf Wanderwegen. Du bist nicht so toll, wie du glaubst und es will auch keiner davon wissen, wenn du es wirklich einmal bist! Bleib´ einfach daheim. Ich tue es auch, für Euch!

B. bei der Kommission

Unter lautem Quietschen kam der Zug zum Stillstand und entledigte sich einem grossen Teil seiner Insassen. Ich war einer von diesen Insassen. Das war eigentlich ziemlich normal. Wochentags war ich einer von ihnen, zweimal täglich sogar. Das ist noch nicht weiter spannend, sehr gewöhnlich gar. Interessant war aber, was im Anschluß geschah. Ich machte einen kurzen Abstecher in den Bahnhofskiosk, um Zigaretten zu besorgen, als ich in der Getränkeecke ein bekanntes Gesicht entdeckte, welches nur darauf wartete von mir erkannt zu werden. Es war mein ehemaliger Nachbar B. Ich begrüsste ihn mit einem leichten Knuff gegen seine rechte Schulter, der ihn nicht weiter beeindrucken sollte. Er ließ sich nicht von seiner Tätigkeit unterbrechen, welche da war, die verschiedensten Alkoholikasorten zu vergleichen, preislich und gemäss des angegebenen Prozente. Sein konzentriertes Abwägen machte ihn blind für mein plötzliches Erscheinen. Erst, als ich ihn ansprach, genauer noch beim Namen nannte, schenkte er mir einen ungläubigen Blick der sich in ein verhaltenes Lächeln verwandelte, als die Synapsen zu funktionieren begonnen. B. erinnerte sich meiner, gab mir einen flüchtigen, sehr laschen Händedruck und begann erneut mit der Inspektion der einzelnen Flaschen. Er tat dies mit einer Hingabe, die mich faszinierte und mir Appetit machte auf einen Schluck Weinbrand, Korn oder Whisky. “Wie läuft´s?”, fragte ich ihn. Sichtlich erschöpft stellte er die Flaschen zurück ins Regal, kratzte sich verwegen am Hinterkopf und begann die Taschen seiner Trainingshose zu durchwühlen. In Gedanken war er noch immer mit der Getränkewahl beschäftigt. Endlich konnte er sich überwinden und begann mir in die Augen zu schauen. “Alles beim Alten”, gab er zu verstehen. Noch immer kramte er ausgiebig in seinen Hosentaschen, die gross sein mussten wie Bettdeckenbezüge, denn er fand und fand nichts. Nachdem er noch eine ganze Weile mit Suchen beschäftigt war, gestand er, dass er im Moment wohl etwas knapp bei Kasse war. Das war nervig, denn es fehlten ihm die Kröten für Sprit. Ohne grosse Umschweife fragte er mich, ob ich ihm nicht aushelfen könnte, da es finanziell gerade wirklich nicht gut um ihn bestellt war. Irgendetwas bedrückte diesen Menschen, weshalb ich mich entschloss meinem alten Bekannten behilflich zu sein. Das Wetter war nicht besonders gut, aber immerhin, es regnete nicht. Wir konnten uns also gemütlich in den Park unweit des Bahnhofs setzen und uns eine Flasche Irgendwas teilen. Ich spürte, dass B. mich nun als Zuhörer brauchen konnte. Mich, aber vielmehr noch Schnaps. Wir entschieden uns für einen Kognak, eine Flasche Industriealk mit Zuckercouleur. Er schmeckte köstlich. Mein alter Freund B. hatte einen ausgesprochenen Durst und ich musste meine Schlücke den seinen anpassen, um nicht leer auszugehen. Erst, als wir bis unter das Etikett getrunken hatten, begann mein Freund redselig zu werden. Er hatte sämtliche Hoffnung auf eine Arbeit aufgegeben, nachdem er erst vor ein paar Tagen einen schrecklichen Brief im Postkasten fand. Dem Brief ging jedoch eine Geschichte voraus und diese erzählte er mir wie folgt:

Alles begann damit, dass B. eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhalten hatte. Vorstellungsgespräche hatte er in der Vergangenheit bereits viele besuchen müssen, seine Arbeitsvermittlerin wollte es so. Meist handelte es sich jedoch um Anstellungen, die ihn anwiderten. Er ging regelmässig zu den Gesprächen, um sie dann gekonnt zu vermasseln. All die Jobs, die er gerne bekommen hätte, blieben ihm verwehrt, aus welchen Gründen auch immer. Mit seiner Arbeitsvermittlerin schrieb er nun fleißig Bewerbungsschreiben, bittete und bettelte, jedoch immer ohne Erfolg. Um so mehr wunderte er sich über die Einladung einer Institution, bei welcher er sich nie beworben hatte. Im Schreiben dieser Institution stand nur Datum, Ort und Uhrzeit des Termins. Ausserdem wurde erwähnt, dass es sich um ein vertauliches und geheimes Treffen handeln sollte und die Aussicht auf eine vielversprechende Anstellung bestünde. Eine vielversprechende Anstellung suchte B. schon lange. All das weckte also sein Interesse, weshalb er beschloss diesen Termin in jedem Fall wahrzunehmen. Für den Tag des Vorstellungsgesprächs hatte er sich sogar den Wecker gestellt, denn man erwartete ihn bereits am frühen Morgen. Die Aufregung hielt ihn lange wach und kurz nach dem er eingeschlafen war, wurde er auch schon geweckt. Ein dumpfes Geräusch riss ihn aus dem Schlaf. Sein Nachbar K. von obendrüber war gerade, beim Versuch sich schlafen zu legen, aus dem Bett gefallen. K. war ein guter Bekannter von B. Dieser K. war am Morgen erst aus einer Nervenheilanstallt entlassen worden, was er zünftig feiern wollte. B. war eingeladen und wollte gerne mit ihm gehen, wenn da nicht dieser geheime Termin gewesen wäre. Er entschuldigte sich mit der Ausrede, sich einen aggressiven Darmvirus eingefangen zu haben. Das schreckte K. ab, sodass er entschied vorerst alleine feiern zu wollen und erst nach der Genesung von B. gemeinsam mit ihm anzustossen. Die Zeiger des Wecker waren kurz davor, die Position zu erreichen, die sein schrilles Läuten provozieren sollten. Die Nacht war gelaufen. Dem dumpfen Schlag folgte ein leises Wimmern und Hüsteln. B. machte sich ein wenig Sorgen um seinen guten Bekannten. Sein Wehklagen jedoch beruhigte B., denn scheinbar war er noch am Leben, die Situation also nur halb so schlimm. Der Blick auf den Wecker ließ in B. Zweifel aufkommen. Es lohnte sich nicht mehr weiter zu schlafen, da ihm nur noch wenige Minuten bis zum Aufstehen verblieben. Die Müdigkeit machte ihm zu schaffen. Ein starker Kaffe sollte helfen. Also ließ er die Filtermaschine an, die er zuvor mit reichlich Pulver und nur wenig Wasser versehen hatte. Beim Blick auf die Uhr machte sich Nervosität bemerkbar. Ein vertrauliches, geheimes Treffen hatte man nicht alle Tage, besonders, wenn noch eine vielversprechende Anstellung in Aussicht stand. Der Kaffe war über alle Maßen stark. B. begann sofort Kammerflimmern zu entwickeln und entschied sich als Antidot ein altes Hausmittel zu gebrauchen. Er verwässerte den dichten Filterkaffee mit Nordhäuser Doppelkorn. Das vormals pechschwarze Getränk sah nun aus wie Kamillentee. Sein Herz beruhigte sich und wollte nun wieder in seinem gewohnten, gleichförmigen Rhythmus schlagen. Auch seine Nerven kamen langsam zur Ruhe. Zur Ablenkung schaltete er das TV-Gerät ein. Eine Sendung mit den schönsten Bahnstecken Zentralasiens hatte sein Interesse geweckt. Schnell merkte er jedoch, dass der Alkohol das Koffein des Kaffees eliminiert hatte und er wieder müde wurde. Die Bahnstrecken taten ihr Übriges, also stellte er das Fernsehn ab. In der Wohnung konnte er nicht mehr bleiben, alles verlockte ihn zum Weiterschlafen. Schnell zog er sich an, putzte die Zähne und mischte sich erneut einen Kaffee mit Nordhäuser, welchen er in einen dünnen Platikbecher füllte. Der Morgen war gerade im Inbegriff das Dunkel der Nacht zu verdrängen, als er, mit seinem Platikbecher in der Hand, das Haus verließ. Schwerfällig zog er seine Sohlen über den morgendlichen Asphalt. Je näher er dem Bahnhof kam, desto voller wurden die Straßen. Das waren sie also, die Erwerbstätigen, dachte er. Bald, so ahnte er bereits, sollte auch er einer von ihnen sein. Der Gedanke daran und das Getränk aus seinem Plastebecher berauschten ihn. Es war ein angenehmer, leicht euphorischer Rausch, der ihm die Sinne nicht trübte. Nur hatte er vergessen ein Billett zu lösen, bevor er den Zug bestieg. Weil alle Wagons über und über mit Erwerbstätigen auf dem Weg zur Arbeit gefüllt waren, hatte er Glück, denn kein Kontrolleur wollte unter solchen Umständen kontrollieren. Neben dem WC fand er einen Stehplatz. Um sein Getränk nicht zu verschütten, trank er es auf ex. Das Hin- und Herwanken des Wagons konnte nun nichts mehr verschütten, löste aber ein starkes Gefühl von Übelkeit aus. Der Gestank seines Erbrochenem machte sich in allen Wagons breit, das war bestimmt pathologisch. Sobald er die Anstellung erhalten hatte, wollte er in dieser Sache einen Fachmann, einen Arzt zum Beispiel, zu Rate ziehen. Bis dahin war ihm der Gräuel der anderen Fahrgäste gewiss. Sei´s drum!, er hatte einen wichtigen Termin wahrzunehmen. Mühevoll quetschten sich die Passagiere durch die geöffneten Zugtüren, um so schnell wie möglich nach draußen, an die frische Luft, zu gelangen. Auch B. tat der morgentliche Wind, der ihm sanft in die Nase stieg, gut. Die Übelkeit war passé, sein Geist klarte auf. Mit der zurückgewonnenen Nüchternheit, machte sich erneut Nervosität bemerktbar. War er doch völlig unvorbereitet an die Sache herangegangen. Er versuchte sich verschiedene Situationen auszumalen und überlegte auch, wie er auf sie reagieren konnte. Das fiel ihm schwer, die Nervosität blockierte sein Verstand. Es blieb ihm noch genug Zeit bis zu dem wichtigen Termin und so entschloss er sich, etwas gegen die Aufgeregtheit zu unternehmen. Am Bahnhofskiosk holte er sich einen Kaffee aus dem Automaten und kaufte ein Fläschchen Weinbrand. Auf jeden Schluck Weinbrand folgte ein Schluck aus dem Kaffeebecher. Auf dem Bahnhofsvorplatz fand er sich ein ruhiges Plätzchen auf einer Bank. Von ihr aus beobachtete er die morgendliche Hektik der Erwerbstätigen. Ihre verschlafenen, verbitterten Blicke streiften ihn, beachteten ihn aber nicht. Das war ihm recht. Einen letzten Schluck Kaffee hebte er sich auf, um den Geruch von Weinbrand aus dem Hals zu waschen. Beim Anblick der Hin- und Hereilenden, begann er unbemerkt zu feixen. All diese Idioten, die wie grosse, aufgezogene Spielgeräte über den Bahnhofsvorplatz hasteten, um dann bis zum Abend in einem warmgefurzten Büro zu schwitzen, so dachte er kopfschüttelnd. Sicher hatte keiner von ihnen eine vertrauliche oder gar geheime Anstellung, wie er sie in Aussicht hatte. Der Blick auf die Kirchturmuhr verriet ihm, dass es an der Zeit war aufzubrechen. Er bestieg den Bus der Linie “Bitte nicht einsteigen” und suchte sich einen Sitzplatz im hinteren Teil. Dass der Bus menschenleer war und weit und breit kein Fahrer zu sehen war, wunderte ihn nicht. Es war angenehm warm und er merkte, wie der Weinbrand den Automatenkaffee zu dominieren begann.

Mit groben Händen rüttelte ihn der Busfahrer aus dem Schlaf. “Hee! Aussteigen!”, brüllte er ihn an. B. erschrak. Wo war er nur? Wie spät war es? All das fragte er auch den Busfahrer, der ihm jedoch die Antwort schuldig blieb. Noch bevor er sich erneut zu fragen traute, fand er sich auf dem Bürgersteig vor dem Bus wieder. Die Gegend rings um ihn war ihm fremd. Er fragte die Vorbeilaufenden nach dem Weg, doch keiner wollte ihm helfen. Ob es an seiner Weinbrandfahne lag? Sicher nicht. Ein Verkehrsschild gab die Richtung “Bahnhof” bekannt. Zurück zum Anfang, dachte er. Eiligen Schrittes machte er sich auf Richtung Bahnhof, als es heftig zu regnen begann. Schnell war sein grüner Polyesterpulli durchnässt. Scheiße, jetzt werd´ ich sicher krank, dachte er, als er sich vergeblich eine feuchte, matschig gewordene Zigarette anzünden wollte. Dann eben nicht.

Er hatte bereits eine grosse Strecke hinter sich gelassen, als er beim Studieren der Straßennamen, bemerkte, dass er an der gesuchten Adresse angelangt war. Schnell fand er die richtige Hausnummer und wunderte sich bald, da sie zu einer alten Fabrikhalle zugehörig war. Große, zugemauerte Fenster bildeten die Front. Alles sah ziemlich verlassenen aus. Es gab ein großes Tor, welches ebenfalls zugemauert war. Hier kam er sicher nicht rein. Neben dem Fabrikgebäude entdeckte er eine Gasse. Sie trennte die Fabrik vom Nachbargebäude und war mit allerhand Tonnen und Eimern vollgestopft. All die Behälter lenkten von einer schweren Metalltür ab, welche sich fabrikseitig in der Backsteinmauer befand. Auf einem kleinen Klingelschild stand “Hier klingeln!” geschrieben. B. war sich sicher, dass dies der einzig verfügbare Eingang war und folgte brav der Aufforderung des Klingelschildes. Zweimal drückte er den Knopf bis zum Anschlag. Zweimal, denn er wollte weder insistent, noch zaghaft sein. Noch bevor er den Knopf ein drittes Mal drücken konnte, da ihm das Öffnen der Türe zu lange dauerte, ertönte das Summen des Türschlosses. Er drückte die Tür auf und betrat das Innere der Fabrik. Durch das Glasdach fiel der Sonneschein in das Gebäude. Soeben hatte der Regen aufgehört und die Sonne sich vor die grauen Wolken geschoben. B. fand sich in einer riesigen Halle wieder. Eine dicke Staubschicht deckte den Boden. In einer Ecke, am Ende der Fabrikhalle entdeckte er einen einfachen Holztisch, an dem eine Dame saß. Ihr Körper war von ihren langen, grauen Locken bedeckt. Lediglich ihr riesiger Busen blickte aus dem Haargewand empor. In ihrem Gesicht war alles klein. Kleine Nase, kleines Kinn und winzige Augen, der Mund nur ein dünner Strich. Noch bevor B. irgendetwas sagen konnte, bemerkte sie mit hoher, scharfer Stimme: “Sie werden erwartet. Folgen Sie mir!”

B. tat was die alte Frau von ihm verlangt hatte und folgte ihr. Gemeinsam verließen sie die Halle durch eine alte, hölzerne Tür, die sie in ein Treppenhaus führte. Die Alte ging vorneweg und B. folgte ihr mit immer einer Etage Abstand. Es fiel ihm schwer, Schritt zu halten. Auch das Treppenhaus war mit einem Glasdach gedeckt und je höher sie stiegen, desto heller wurde es. Als sie das Ende der Stufen erreicht hatte, gelangten sie an eine Tür. Die Dame setzte sich auf einen Rattanstuhl neben der Türe und begann sofort zu schnarchen. B. neigte sich zu ihr vor und stellte fest, dass sie eingeschlafen war. Das ging schnell. Über der leichten Sperrholztür stand mit weißer Kreide “Kommission” geschrieben. B. legte vorsichtig und ganz leise sein Ohr an die Türe. Das Geschnarche der Alten war derart laut, dass er nichts hören konnte. Er nahm sich eine faustvoll ihrer Locken und stopfte sie in ihr halbgeöffnetes Maul. Sie ließ deshalb aber nicht vom Schnarchen ab, wurde gar lauter. Gerade wollte B. erneut sein Ohr gegen die Tür pressen, als ein scharfes “Herein!” ertönte. Er schreckte kurz auf, besann sich aber gleich wieder, denn es wurde ihm klar, dass hinter dieser Türe wohl das Vorstellungsgespräch stattfinden sollte. Beherzt stieß er die Tür auf. Ein fauliger Geruch von Ei und alten Socken schoss ihm in die Nase. Hier müsste mal gelüftet werden, sagte er leise vor sich her.

Der Raum war klein und das gläserne Dach mit ausgestreckten Händen zu ertasten. An einem langen Tisch saßen drei Herren und starrten B. an. Sie waren von unterschiedlicher Größe und Statur. Der in der Mitte war klein, so klein, dass man kaum seine Schultern am Tischrand vorblitzen sah. Er war dicklich und sein Kopf klein und rund. Seinen Hals konnte man nicht erkennen. Der Linke war hager und lang geraten, trug eine dicke Brille und Glatze. Der Rechte war normal groß, aber unglaublich fett. Er schwitzte stark und hatte große Mühe Luft zu bekommen. Beim Einatmen pfeifte er laut, wie ein Teekessel. Alle drei trugen schwarze Anzüge mit schwarzen Hemden. Schwarz war auch der Tisch, auf dem absolut nichts lag. Kein Papier, keine Stifte, keine Notizbücher oder Aktenordner, kein Telefon, kein Adressbuch oder Ähnliches. Nichts also. B. räusperte sich. “Guten Tag!”, grüßte er salopp. “Nähertreten, bitte!”, gab der Linke zur Antwort. Der Mittlere schwieg, der Rechte schwitzte und pfiff. B. trat vor den Tisch, einen Stuhl gab es nicht. All zu gerne hätte er sich setzen wollen, denn das Treppensteigen hatte ihm doch einiges an Kraft abverlangt. “Sagen Se mal…”, setzte der Rechte fort, als ihn der Linke unterbrach “Was halten Sie von diesem Bild?”. Er zog ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Anzugtasche und begann es vor B.s Augen auszubreiten. Mit Bleistift war auf dem weißen Blatt der Umriß eines Phallus hingekritzelt. B. war etwas irritiert und hatte so schnell keine Antwort parat. Der Zeichner des Glieds hatte sich nicht besonders viel Mühe gegeben. Er zögerte. “Se wern wohl antworten, wern Se wohl!”, forderte ihn der Rechte auf. “Nur keine Eile! Lassen Sie sich Zeit und überlegen Sie gut!”, fuhr der Linke fort, noch bevor B. antworten konnte. “Es ist…es ist ganz in Ordnung, vielleicht.”, fiel ihm ein. “Hervorragend!”, schrie der Linke sogleich. “Wern Se nich übermütig, junger Mann!”, pfiff der Rechte ihn an. Der Mittlere reichte ihm ein frisch gebügeltes Stofftuch, damit er sich den Schweiß aus dem Gesicht wischen konnte. “Rauchen Sie!”, befahl der Linke. Als B. nicht sofort mit dem Rauchen begann, gab der Linke zu verstehen “Das war keine Frage. Rauchen Sie endlich!” Das kam B. garnicht ungelegen. Es war ihm zwar nicht klar, warum er das tun sollte, da er aber ohnehin gern rauchte, erklärte er sich gern bereit, dem Wunsch des Linken nachzukommen. Aufmerksam beobachteten alle drei, wie B. genüßlich an seiner Kippe sog und auf den Boden aschte. Der Mittlere hatte soeben begonnen einen Schreibblock aus seinem Anzug zu ziehen, um sich Notizen zu machen. Plötzlich klopfte es an der Türe. “Kommen Se rein!”, schrie der Rechte. Die Alte, die vor der Türe auf dem Stuhl eingeschlafen war, betrat den Raum mit einem grünen Platikeimer in der Hand. Sie stellte sich neben B. und platzierte den Eimer vor seinen Füssen. Dann schritt sie hinter den Tisch, um den Mittleren von seinem Stuhl zu heben. Sie trug ihn vor den Eimer. Der Mittlere ragte kaum über B.s Hosenbund. Die Alte zog ihm die Hose und den Feinrippschlüpfer in die Kniekehlen und setzte ihn auf den grünen Eimer. Der Rechte und der Linke begannen herzhaft zu lachen. Der Mittlere färbte sein blasses Köpfchen rot und begann in den Eimer zu pressen. Binnen Sekunden hatte er seinen Darm in den Behälter entleert. Die Alte hob den Mittleren vom Eimer und fuhr ihm mit dem rechten Zeigefinger durch die Kimme. Mit der linken Hand zog sie ihm flink die Hose hoch und verschwand geschwind, mit dem Eimer in der Hand. B. wusste nicht recht wie ihm geschah. Der Mittlere stand immer noch vor ihm und schaute zu ihm hinauf. Er streckte seinen kurzen Arm aus und reichte B. die Hand. Verdutzt blickte B. auf die mickrige Hand vor seinem Bauch. “Wir melden uns dann wieder.”, gab der Mittlere kund. B. begriff nicht recht, schüttelte bereitwillig sein Händchen und machte auf dem Absatz kehrt. Als er gerade die Türe öffnen wollte, begannen der Rechte und der Linke erneut aus vollem Halse zu lachen. Die Alte nahm ihn an der Tür in Empfang und führte ihn zurück über die Treppe und durch die grosse Halle. Er gab ihr noch ein “Tschüß” zum Abschied, doch sie blieb stumm. Als er sich wieder auf der Straße befand, hatte es erneut zu regnen begonnen. Von seinem letzten Geld holte er sich eine Flasche Vodka an einem Kiosk, denn er verspürte das starke Bedürfnis erneut seine Nerven beruhigen zu müssen. Er verzichtete auf den Zug und lief durch den Regen, der nicht mehr aufhören wollte, nach Hause. Der Vodka breitete sich über seinem Gemüt aus, wie der Schirm beim Wolkenbruch, den er im Moment nicht zur Hand hatte.

Zwei Tage nach dem Zusammentreffen mit den Herren in der Fabrik, erhielt er einen Brief. Sein Inhalt trug er mir, in gekürzter Form, folgendermaßen vor:

Nach sorgfältiger Prüfung, hat sich die Kommission leider gegen Sie entschieden. Wir sehen Sie, zum jetzigen Zeitpunkt, nicht geeignet für die sehr vertrauliche und geheime Tätigkeit in unserer Institution.

B. hatte erstmal genug von Vorstellungsgesprächen und Anstellungen. In der Zwischenzeit unternahm er viel mit seinem Nachbarn K. Seit dieser aber wieder in die Anstalt eingewiesen wurde, irrte er die meiste Zeit allein umher und soff sich die Welt schön. Ich war froh, dass ich meinem alten Freund ein wenig Beistand leisten konnte. Es war wirklich nicht leicht, den geeigneten Job zu finden.