der gute arzt

Was macht eigentlich einen guten Arzt, eine gute Ärztin aus? Ob ein Arzt eher gut oder eher schlecht ist, müssen meist die Patienten selber entscheiden. Egal wie qualifiziert oder von sich überzeugt der Mediziner auch sein mag, er unterliegt dem Urteil seiner Kunden.
Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich einen sehr, sehr guten, einen hervorragenden Arzt habe. Meinen Hausarzt nämlich.
Er ist der Beste und ich möchte Ihnen erklären, warum das so ist.
Mit Ärzten kenne ich mich schließlich sehr gut aus.
Als Sohn einer Krankenschwester wurde ich früh dahingehend konditioniert, auf die Signale und Symptome meines Körpers zu hören, auf sie acht zu geben. Sie brachte mir bei, dass bereits die kleinste Abnormalität das Indiz für eine schwere, akute oder chronische Erkrankung sein kann. Aus diesem Grund bin ich also regelmäßig auf das Urteil eines kompetenten Arztes angewiesen. Einen, der mir sagt, dass alles in Ordnung ist, dass ich mit hoher
Wahrscheinlichkeit weiterhin ein langes und glückliches Leben führen werde. Schließlich ist das der Grund, warum man überhaupt zum Arzt geht. Man geht zu ihm, weil man hören will, dass alles okay ist und dass man noch ein bisschen weiterleben kann. Sollte einmal nicht alles okay sein, dann will man zumindest hören, dass man mit der jeweiligen Erkrankung, womit auch immer, gut leben kann und trotzdem eine lange Lebenserwartung hat.
Ich gehe also regelmäßig zum Arzt, denn genau das muss ich aus seinem Munde hören.
Wie Antonovsky schon vor langer Zeit herausgefunden hat, gibt es den Menschen nie in 100 % gesundem oder krankem Zustand. Mal überwiegt das eine, mal das andere. In meinem Fall wittere ich die Krankheit bereits beim Auftreten minimalster Symptome.
Sachverhalte, die von den meisten Menschen wohl ignoriert oder als mit dem Alter in Zusammenhang gestellte Gebrechen abgetan werden.
In solchen Fällen greife ich zum Telefon, rufe in der Praxis an und lasse mir einen Termin geben, am besten so schnell wie möglich. Brav lunger ich stundenlang im Wartezimmer herum, bis ich zu ihm, the one and only, in das Untersuchungszimmer gebeten werde. Und da sitzt er dann, anmutig und gescheit.
Er sitzt. Mehr tut er eigentlich nicht. Er sitzt und er hört. Er hört zu. Er hört verdammt viel und gut zu. Aber er redet nicht. Er lächelt dann und wann, zurückhaltend und milde.
Das stört mich eigentlich auch nicht, denn ich habe in meiner langen Laufbahn als Patient schon viele Ärztetypen kennenlernen müssen.
Das Schlimmste war bisher immer, wenn einem der Arzt nicht zu hörte oder zu hören wollte, weil er meint, er wisse bereits, dass ich zwar eine Meise, aber keine ernsthafte Erkrankung habe.
Ehrlich gesagt ist die ärztliche Meinung für einen echten Hypochonder nicht von großer Bedeutung, weil er ja sowieso weiß, dass er schwer und sowieso unheilbar krank ist. Was soll da schon ein Arzt groß ausrichten können?
Mein Arzt ist anders. Er sitzt auf seinem kunstledernen Bürostuhl und folgt aufmerksam meinen Symptombeschreibungen. Und dies tut er auf eine Art, wie ich es bei noch keinem anderen Arzt erlebt habe.
Folgendes Beispiel soll deutlich machen, wie ein Besuch bei meinem Arzt in der Regel abläuft.
Seit einiger Zeit plagt mich ein eher unangenehmes Phänomen. Ich musste feststellen, dass mir bei längeren Autofahrten häufig mein kleiner linker Zehn einschläft. Woran das liegt, kann ich mir nicht erklären. Egal welches Schuhwerk ich auch trage, nach kurzer Zeit schläft der Zeh ein.
Das beunruhigte mich. Ich brauchte den Rat meines Arztes. Also schnell einen Termin abgemacht und im Wartezimmer gewartet, bis es endlich hieß: Herr C., bitte!
Ausführlich erklärte ich ihm, was mir keine Ruhe ließ. Dabei versuchte ich so präzise wie möglich vorzugehen. Ich wollte kein Detail auslassen, denn vielleicht, so dachte ich mir, war genau dieses Detail ein sehr wichtiges Detail, was zur Diagnosefindung und folglich auch zur Therapie führen sollte.
Um mich klar verständlich zu machen, war mir jedes Mittel recht. Ich zeigte ihm eine Skizze meiner Sitzposition im Auto. Ich führte ihm sämtliche Schuhe vor, welche ich besaß. Zog jeden einmal an und machte ihm deutlich, wie und wo der einzelne Schuh drückte oder auch nicht.
Und er hörte mir zu, die ganze Zeit. Ab und zu nickte er, lächelte milde und gab mir zu verstehen, dass alles okay war und ich weiter reden durfte. Ich begann einen längeren Monolog zur Materialbeschaffenheit meiner Latschen und berichtete kurz darauf von den unmöglichen Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten in Fernost.
Es dauert nicht lange und ich kam zu dem Schluss, dass der Kapitalismus an allem die Schuld trage und dass kein Konzern besser als der andere sei, weil das in diesem, unsrigem System unmöglich sei. Sein Blick sagt mir „Rede weiter!“ und „Interessant! Habe ich bisher noch nie so betrachtet.“ Er schwieg, immer noch.
Also hörte ich nicht auf zu erzählen. Nachdem ich einen längeren Vortrag zur Systemfrage gehalten hatte, stelle ich fest, dass mein banales gesundheitliches Problem total unwichtig sei im Vergleich zu dem, womit sich ein Großteil der Erdbevölkerung herumplagen musste.
Er schaute mir tief in die Augen, presste die Lippen zusammen und machte ein trauriges Gesicht. Nur kurz, denn gleich darauf zwinkerte er mir zu und lächelte milde.
Nach kurzer Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass ich wahrscheinlich gar keine Abklärung meiner Symptome brauchte, weil ich ja eh kaum Auto fuhr und es sowieso besser war, überhaupt kein Auto zu fahren. Daraufhin kniff mein Arzt beide Augen zu, lächelt noch einmal milde und reichte mir die Hand zum Abschied. Zufrieden drückte ich fest seine zarte Ärztehand.
Er erwies mir noch die Ehre, mich zur Tür zu begleiten, wobei er mir sanft die Schulter tätschelte. Kurz bevor ich sein Untersuchungszimmer verlassen konnte, wandte er sich plötzlich und zum ersten Mal an mich und sprach:
„Wenn es schlimmer werden sollte, können Sie gerne jederzeit zu mir kommen.“
Zufrieden ging ich nach Hause. Zufrieden, weil ich wusste, dass mein Arzt der beste Arzt der Welt war.

der helm

Kennen Sie Menschen, die ohne Helm Fahrrad fahren? Ich bin so einer, oder besser gesagt, ich war so einer. Dabei gab es für mich nie einen besonderen Grund, warum ich keinen Helm trug oder tragen wollte. Weder weil mir meine Frisur zu schade war, noch war mir das Ding auf dem Kopp peinlich. Auch war mir es im Grunde einerlei, ob man unter dem Helm nun schwitzte oder nicht. Weil ich ja nie einen Helm gehabt habe, konnte ich zum Thema Komfort nie Erfahrungen sammeln.
Neuerdings sieht man mich auf dem Rad aber nur noch mit Schutzhelm. Ich trage ständig einen. Und zwar aus Angst.
Nicht etwa, weil ich gestürzt bin und dem Tod nur knapp entkommen konnte, oder weil ich Zeuge eines fürchterlichen Fahrradunfalls wurde. Nein, nein, der wahre Grund ist viel schrecklicher!
Doch was war geschehen? Wie kam es zu meinem Sinneswandel?
Ich werde es Ihnen verraten.
Vor ein paar Wochen trug es sich zu, dass ich mein Fahrrad über den Bürgersteig schob. In meiner linken Hand hielt ich einen Blumenstrauß, der als Präsent für eine ganz bestimmte Frau galt. Der Strauß war recht pompös und als ich versucht hatte mit ihm in der Hand den Lenker zu bedienen, musste ich feststellen, dass Schieben schneller und sicherer war. Das störte mich nicht weiter, da mein Zielort in der Nähe gelegen war, nur ein paar Gehminuten entfernt quasi.
In der rechten Hand hielt ich also die Blumen, mit der linken schob ich das Rad.
Ohne, dass ich es bemerkt hatte, war mir eine Dame im mittleren Alter gefolgt. Sie näherte sich schnell und als sie kurz davor war in den Hinterreifen meines Fahrrads zu latschen, zog ich meinen Drahtesel an mich, um ihr genügend Platz zu gewähren, damit sie an mir vorbeigehen konnte.
Doch sie ging nicht vorbei.
Ich hatte Mühe, mich auf das Halten der Blumen und des Fahrrads zu konzentrieren und schenkte ihrer Aufdringlichkeit keine große Beachtung.
Bis wir beide an einer Ampel zum Stehen kamen, weil diese gerade auf rot gesprungen war.
Aus dem Augenwinkel stellte ich fest, wie sie mich mit samt meinem Fortbewegungsmittel musterte, intensiv musterte.
„Sie tragen wohl keinen Helm?“, tönte es aus ihrem ihren schmalen Lippen.
„Äh, was meinen Sie bitte?“, war alles, was mir spontan einfiel.
„Einen Fahrradhelm! Brauchen Sie nicht, was?!“, erwiderte sie sogleich.
„Äh, nein, äh … Ich hab keinen.“, versuchte ich zu bestätigen, was sie bereits selber festgestellt hatte.
„Sie wissen schon, dass das ziemlich unverantwortlich ist, das Ihr Verhalten sehr egoistisch ist!“
Ich war geschockt. Egoistisch? Wie kam sie denn darauf?
„Wieso denn gleich egoistisch?“, wollte ich von ihr wissen.
„Na wenn Sie jetzt einen Unfall mit einem Auto oder Ähnlichem fabrizieren und sterben, weil Sie keinen Helm getragen haben, dann macht der andere sich vielleicht sein Leben lang Vorwürfe. Schon mal drüber nachgedacht?“, krächzte sie mich an und verschränkte dabei die Arme.
Ehrlich gesagt, habe ich noch nie darüber nachgedacht, dass, wenn ich keinen Helm trage und in einen Unfall mit einem Automobil verwickelt bin und sterbe, weil ich keinen Helm trage, dann der andere bis ans Ende seiner Tage von Vorwürfen und Schuldgefühlen geplagt werden würde. Das gab mir zu denken.
„Und was ist, wenn ich einen Helm trage und trotzdem sterbe? Macht der andere sich dann weniger Vorwürfe?“, diese Frage hatte mich wirklich interessiert, führte aber nicht zu einer konstruktiven Diskussion über Schuld und Schuldgefühl, sondern löste eine Art Zorn in der Dame neben mir aus.
„Und das alleine reicht für Sie als Entschuldigung keinen Helm zu tragen? Menschen wie Sie, mit einer derartigen Verantwortungslosigkeit sind ja wirklich das Allerletzte!“, brüllte Sie mir entgegen, sodass die Fußgänger im Umkreis von 50 Metern zu uns herüberblickten.
„Jetzt regen Sie sich doch nicht gleich so auf! Ich habe nun mal keinen Fahrradhelm, ohne besonderen Grund. Und außerdem schiebe ich doch im Moment mein Fahrrad und brauche deshalb sowieso keinen …“, versuchte ich mich zu verteidigen.
„So eine Frechheit! Kommen Sie mir nicht mit solchen Ausreden! Stellen Sie sich doch nur mal vor, Sie wären so von ein paar Kindern gesehen worden? Ohne Helm? Sie, ein Erwachsener, der Vorbild sein sollte? Sagen Sie mal, schämen Sie sich denn überhaupt nicht? !“, sie war vollends in Rage. Was sollte ich ihr antworten? Warum wollte die Ampel nicht auf Grün schalten? Sollte ich ihr den Strauß um die Ohren schlagen, mich aufs Rad schwingen und schnell das Weite suchen?
„Ich glaube, ein jeder sollte selbst Verantwortung für sein Handeln tragen.“, gab ich bekannt, um die Situation ein wenig zu entschärfen.
„Verantwortung?! Jetzt reicht es mir aber mit Ihnen!“, brüllte Sie erneut und ohne Vorwarnung hob sie ihre knöchrigen Hände in die Luft, um sie kurz darauf auf meinen Schädel eintrommeln zu lassen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah, damit hatte ich gerechnet. Sie bearbeitete meinen Kopf und meinen Rücken und verwandelte den Blumenstrauß in ein florales Geschnetzeltes, als ich ihn schützend vor mein Gesicht halten wollte.
Ihre Schläge taten nicht besonders weh, doch ließ mich dieser spontane Gewaltausbruch wie paralysiert zu Boden gleiten.
Als die Ampel endlich auf grün stand, ließ sie von mir ab, richtete ihre Bluse und sprach: „Ich hoffe, das ist Ihnen eine Lehre gewesen! Ohne Helm, so was von unverantwortlich!“
Der Blumenstrauß war hinüber und ich stand unter Schock. Die Leute ringsum schauten zu mir herüber, einige schüttelten die Köpfe. Aus irgendeinem Grunde war mir das Geschehene peinlich. Ich fühlte mich schuldig, so, als hätte die Frau nur das Richtige getan, weil ich ja keinen Helm getragen hatte …
Ich wollte nur noch heim. Jetzt hatte ich wieder beide Hände frei und konnte eigentlich Rad fahren.
Doch ohne Helm traute ich es mir nicht mehr.