Herr Noah war ein Mann, den man als zuverlässigen, pflichtbewussten Bürger bezeichnen konnte. Er trug gerne Funktionskleidung, spielte Tischtennis im Verein und es gab keinen Wochentag, den er aus welchem Grund auch immer weniger mochte als die anderen. Im Großen und Ganzen war auch seine Frau mit ihm zufrieden, wünschte sie sich jedoch manchmal etwas mehr Romantik in ihrer Beziehung.
In seiner Freizeit kochte Herr Noah, manchmal sogar mit Leidenschaft. Am besten gelangen ihm Bouletten. Jeder, der schon einmal die Gelegenheit hatte, sie zu probieren, konnte das bestätigen.
Herrn Noahs Leben verlief gleichförmig und geordnet, eigentlich zu seiner vollsten Zufriedenheit.
Bis zu diesem einen Abend, der einiges verändern sollte.
Es geschah an einem Freitag. Soeben hatte Herr Noah seine Arbeit beendet. Auf dem Weg nach Hause kam er am Hauptbahnhof vorbei, als ihn ein unbeschreiblich grosser Appetit auf Bouletten überkam. Am Bahnhofskiosk gab es kein Hackfleisch und je mehr er an Bouletten dachte, desto verzweifelter wurde er.
Glücklicherweise traf er an der Straßenbahnhaltestelle «Hauptbahnhof» auf einen jungen Mann im Krankenhaushemd. Auf seinem abgewetzten Patientenarmband stand «Peter» oder «Alexander», so genau konnte man das nicht sagen, denn es war wirklich sehr abgewetzt. Nachdem er es bei den anderen Wartenden versucht hatte, sprach er auch Herr Noah an, ob er nicht Interesse hätte an dem, was er da im Angebot hatte.
Herr Noah traute seinen Augen kaum, hatte der Typ im Patientenhemd doch tatsächlich zwei Kilogramm Hackfleisch bei sich. «Premiumqualität» und «bestes Fleisch diesseits des Äquators» waren die Worte, mit denen er sein Hack zum Verkauf anbot.
Anfangs war Herr Noah skeptisch, doch der Hunger verdrängte alle Zweifel.
Er zahlte den erstaunlich geringen Betrag und machte sich eilig nach Hause, das Hackfleisch zu verarbeiten.
Zu Hause angekommen verwandelte er die rohe Fleischmasse in wohlgeformte Kugeln, die er zu einem gigantischen Boulettenberg aufstapelte.
Und das, was er da geknetet und gebraten hatte, war an Köstlichkeit nicht zu überbieten. Binnen kurzer Zeit hatte er alle Bouletten allein aufgegessen.
In dieser Nacht schlief Herr Noah sehr schlecht. Sein Magen rebellierte und kurz nach drei Uhr wurde er wach. Auf dem Weg zum Badezimmer bekam er plötzlich eine Eingebung. Der liebe Gott persönlich erschien ihm auf dem feuchten Badenwannenvorleger. Er führte einen längeren Monolog, zeigte sich insgesamt zufrieden mit den bisherigen Leistungen des Herrn Noah und forderte ihn dann auf, zwei von jeder Art zu nehmen. Wofür konnte Herr Noah aber nicht mehr in Erfahrung bringen, da er in der Zwischenzeit schon wieder zu sich gekommen war. Kalt rann ihm der Schweiß von der Stirn, sein Herz pochte so stark, als wollte es ihm jeden Moment aus der Brust springen.
Zwei von jeder Art?! Mit zittrigen Händen zog er sich am Wannenrand hoch. Zwei von jeder Art?! Kam das nicht auch schon in der Bibel vor?! Herr Noah musste sofort an den Klimawandel und das Steigen des Meeresspiegels denken und da wurde ihm plötzlich klar, was Gott von ihm wollte.
Schnell schlüpfte er in seinen Mantel und rannte in Pantoffeln auf die nächtliche Straße. Zwei von jeder Art hätte er bestimmt im Zoo finden können, aber um die Uhrzeit fuhr kein Bus mehr und die Strecke war zu weit für einen, der Pantoffeln an den Füssen trug.
Zwei Straßen weiter befand sich eine Zoofachhandlung, die musste reichen.
Im Wahn eilte Herr Noah zu dem Laden, griff sich ein Fahrrad, welches vor dem Geschäft abgestellt war und warf damit die Scheibe ein.
Sämtliche Kleintiere verfielen in Panik oder Schockstarre. Herr Noah stopfte, was er greifen konnte in seine Manteltaschen. Egal ob mit Fell, Federn oder Schuppen, er nahm sie alle und von jeder Art immer zwei. Außerdem griff er sich noch eine große Packung Mehlwürmer, wer weiß, wofür man die noch brauchen konnte. Dabei unterschätzte Herr Noah, dass es nicht immer einfach war, das jeweilige Geschlecht zu bestimmen. Mitunter wehrten sich die Tiere, bissen oder kratzten, während Herr Noah sie nach ihren Fortpflanzungsorganen absuchte.
In der Ferne konnte er bereits die Sirenen der sich nähernden Polizeiwagen hören. So schnell wie er in seinen ausgelatschten Pantoffeln nur konnte, eilte Herr Noah nach Hause. Aus seinen Manteltaschen quiekte, pfiff und trillerte es so laut, dass er unter diesen Umständen nicht unbemerkt nach Hause kommen konnte.
Im Hinterhof seines Wohnhauses befanden sich zwei große Regentonnen. Nachdem er den Mantel zwei Minuten in eine der halbgefüllten Tonnen gestopft hatte, verstummte das Kleinvieh. Nur die Zierfische blieben halbwegs unbeschadet, was Herr Noah nicht störte, denn immerhin hielten die ihr Maul.
Doch was sollte er nun mit dem nassen Mantel voll leblosem Federvieh und toten Nagern anstellen?! Was, wenn die Polizei ihn finden sollte?!
Herr Noah eilte in seine Wohnung und machte sich sofort daran, alle Spuren zu beseitigen.
Zwei von jeder Art zog er durch seinen Fleischwolf und briet sie in heissem Fett zu saftigen Bouletten. Am besten gelangen ihm Nymphensittich- und Degu-Bouletten. Die Chinchillas waren auch nicht schlecht, doch bekam er davon Sodbrennen. Damit er nun Gottes Wunsch vollumfänglich erfüllen konnte, fehlte nur noch die Arche.
Er stopfte sich die warmen Bouletten in den nassen Mantel und machte sich, noch immer in Pantoffeln beschuht, auf den Weg in den Stadtpark.
Den höchsten und somit hochwassersichersten Punkt machte er auf dem Dach eines Pavillons aus. Die Flut konnte also kommen.
Die Flut kam aber nicht. Schlimmer noch, eine Hitzewelle rollte übers Land und ließ die Region vollständig ausdörren.
Zwei Wochen hielt es Herr Noah auf dem Dach aus. Erst bekam er einen Sonnenbrand und kurz darauf Hunger. Nachdem er alle Bouletten verputzt hatte, gab er sich geschlagen und stieg vom Pavillon herab.
Von Gott war Herr Noah seither tief enttäuscht und kurze Zeit später trat er aus der Kirche aus.
Seine Vorliebe für Bouletten blieb ihm jedoch erhalten und dann und wann besuchte er die Zoohandlung, um sich zwei von jeder Art zu holen. Nur die Chinchillas nahm er nicht. Von denen bekam er noch immer Sodbrennen.
Almost perfect