Spät ist bereits der Abend, als der Herr B. von seiner Arbeit als Klavierlehrer nach Hause kommt. Noch während er die Wohnungstüre mit dem Ellenbogen aufstößt, streift er sich die kastanienbraunen Slipper von den Füßen. In der rechten Hand hält er einen laut klingenden Schlüsselbund, in der linken befinden sich sechs, in Folie gehüllte Bierdosen. Sein Plan ist es alle Dosen innerhalb der nächsten zwei, drei Stunden auszutrinken. Er will nicht hastig saufen, er will zügig trinken. Zügig, das, so denkt er sich, ist das richtige Wort. In einem Zug, zum Beispiel.
In der Küche steht seine Frau. Das weiße Licht der Neonröhre dringt in den dunklen Flur und beleuchtet sein blasses, unrasiertes Gesicht. An der Küche schleicht er vorbei. Es war ihm lieber, wenn sie ihn nicht bemerkte. Ohnehin würde sie ihre Küche nicht verlassen. Was sie da trieb? Er wusste es nicht und es war ihm auch egal. Sie waren sich gegenseitig egal, seit Jahren bereits. Ganz normale Ehe, dachte er sich.
Sechs Bierbüchsen waren in seinem Arm, das war jetzt wichtiger. Auf leisen Sohlen begab er sich in seinen Wohnzimmersessel, stellte den Fernseher an und öffnete die erste Dose im Flackerlicht der Glotze.
Heute war sie bereits den zehnten Tag in Folge auf der Arbeit gewesen. Ihr Körper war gezeichnet vom Altenheim. Sie zerrte an den Alten, hievte sie hoch, sie wusch sie und stopfte ihre faltigen Mäuler. Sie gab ihnen Abführmittel, ließ sie scheißen und machte alles wieder fein säuberlich reine. Ihre Finger waren geschwollen und krumm in alle Himmelsrichtungen, groß und rot waren ihre Handteller. Ihr Rücken war krumm und kaputt und schmerzte, doch daran hatte sie sich gewöhnt. Und jetzt stand sie da und kochte, kochte seit Stunden Marmelade ein. In den Töpfen blubberten die Beeren im Zucker und durch die Kaffeemaschine tropfte ein pechschwarzes Gebräu. Er verstand nicht, wie man zu solch einer späten Stunde noch Kaffee trinken konnte, und sie rügte ihn, wenn sie ihn mit seinen Bierdosen erwischte.
Dabei brauchte er das Bier. Es war ihm das einzige Mittel, was ihm half seinen Alltag zu überstehen. Alle Nachmittage und auch die Abende der Woche außer sonntags plagte er sich mit dem Abschaum der Gesellschaft herum. Er brachte gegen Geld den Kindern reicher Eltern das Klavierspielen bei. Klavier sollten sie spielen, weil das gut war, für die kognitive und musische Entwicklung. Die Kinder hassten Klavier. Sie wollten nicht Klavier spielen. Sie wollten Fußball spielen, Computer spielen, an sich herum spielen, die Älteren von ihnen zumindest. Es widerte ihn an, den Gören Klavier beizubringen, und die Gören widerte es an Klavier zu lernen. Es war eine widerwärtige Angelegenheit. Er tat es für Geld. Sie tat es für Geld. Wir alle…
Das Bier schmeckte hervorragend, so wie er es gewohnt war, so wie er es sich schon seit dem frühen Mittag durch seine Kehle fließen sehnte.
In der Glotze kam eine Talkshow, die seinen Intellekt beleidigte, das hatte er soeben festgestellt. Was war nur aus meinem Talent geworden, fragte er sich, als er die jämmerlichen Gestalten der Talkrunde betrachtete. All diese Idioten waren tausendmal erfolgreicher, als ich und hatte doch so wenig Talent. Er hingegen hatte Talent, früher einmal, ganz bestimmt. Aber irgendwie …
In der Küche blubberte Marmelade. In der Küche blubberte Kaffee.
Es vergingen die Stunden und es leerten sich die Dosen und es füllten sich die Einmachgläser. Im TV-Kasten wurden Bilder eines Urwaldes gezeigt. Das war auch gut so, denn er hatte die Talk Shows satt. Er zog die erste Dose zügig leer. Lautlos setzte er die leere Büchse neben seinen Sessel. Er gab sich große Mühe, das Öffnen, das Klacken der Dose, so leise wie möglich zu gestalten, aber es gelang ihm nicht. Egal, denn sie merkte nichts. Im Flüsterton quasselte der Ansager im TV. Sein Schlürfen übertönte die Fernsehergeräusche. Ein angenehmer Vorhang von Suff legte sich über seinen Verstand und ließ ihn entspannen.
„Alle meine …“, hauchte er mitsamt einer fürchterlichen Bierfahne in die nächtliche Stille des Wohnzimmers.
„Entchen …“, fügte er hinzu.
Er stellte den Fernseher ab. Das fahle Licht der Straßenlaternen drang durch die Gardinen der Wohnzimmerfenster.
„Alle meine … Entchen …“, entwich es ihm erneut. Erschrocken richtete er sich aus seinem Sessel auf und schlich zur Türe. Sie hatte nichts gehört, gut so!
„Hm, hm, hm, hm, hmmm, hm.“, summte er.
„Hei, das ist doch …!“, begann er zu kichern. Und dann schon wieder: „Alle meine Entchen! La, la, la, la, laaaaa.“
Er brach in lautes Lachen aus. Lachte Tränen, lachte laut und ohne Unterlass.
Das hatte sie bemerkt. Sogleich betrat sie das Wohnzimmer, knipste das Licht an und blickte erstaunt auf ihren Ehemann, der sich vor Lachen auf dem Boden kringelte.
Sie rief seinen Namen, er richtete sich auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und näherte sich ihrem Ohr. Kaum das seine Lippen ihr Ohrläppchen berührten, flüsterte er ihr ins Ohr: „Alle meine Entchen … la, la, la, la, laaaa!“
Verwundert blickte sie ihm in die Augen und versuchte zu begreifen, was wohl in ihn gefahren war, da packte er sie bei den Händen und forderte sie zum Tanz auf. Lautstark tönte es aus ihm „Alle meine Entchen!“ Und er warf sie durch das Wohnzimmer, einen Walzer tanzend. Bald schon fand sie Gefallen daran, unerklärlicherweise, weil ihre Ernsthaftigkeit ihr ein solches Verhalten normalerweise untersagte. Sie tanzten und drehten sich und warfen die Möbel beiseite. Sie öffneten die Fenster weit, warfen den Sessel heraus, drehten und drehten sich im Kreis. Sie drehten sich und tanzten wild und warfen auch den Fernseher aus dem Fenster und sie drehten und drehten sich.
Es folgten die Bierdosen, es folgten die Marmeladengläser, alles warfen sie aus dem weit geöffneten Wohnzimmerfenster. Sie drehten sich und tanzten und sie sangen „Alle meine Entchen!“
Sie tanzten und tanzten, bis sie erschöpft zu Boden fielen, bis sie schwer atmend nebeneinander auf dem Rücken lagen. Da rollte er zu ihr rüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Alle meine Entchen.“