miroslav günther und die zukunft

Seit Kindheitstagen wünschte sich Miroslav Günther aus G. nichts sehnlicher als in der Zukunft zu leben.
Sämtliche Zukunftsvisionen, angefangen vom «Jahr 2000» mit den fliegenden Autos und den Robotern, die dem Menschen untertänigst dienten, bis hin zur künstlichen Intelligenz, die den insgesamt unintelligenten Homo sapiens intelligenter machen sollte, waren allesamt unzureichend und enttäuschend.
Das meiste von dem, was die gegenwartgeworden Zukunft zu bieten hatte, hatte häufig nur noch wenig mit der anfänglichen Vision gemein.
Die Zukunft behielt für Miroslav Günther trotzdem ihren Reiz.
Irgendwann, da war er sich sicher, würde genau die Zukunft kommen, die seinen Vorstellungen entsprach.
Bis dahin blieb Herrn Miroslav Günther nichts anderes übrig, als zu warten.
Geduldig zu warten auf eben diese Zukunft.
Denn für Miroslav Günther stand fest, die Zukunft ist eine Frage der Zeit.
Recht sollte er haben.
Beharrlich wartete Herr Günther und wartete. Bald schon, er hatte mittlerweile fast 50 Lebensjahre weggewartet, kamen ihm Zweifel und es schwand ihm die Geduld.
Weniger, weil ihm die Vorfreude auf die Zukunft abhandengekommen war, als, weil er die fade Gegenwartstristesse nicht mehr länger ertragen mochte.
Hinzu kam, dass mit jedem Bisschen Zukunft, welches sich im Sekundentakt in Gegenwart gewandelt hatte, die Sorge um die ferne Zukunft wuchs. Klimawandel, Ressourcenknappheit und Kriege lösten in Miroslav Günther ein gewisses Unbehagen aus.
Zum Glück aber, nach kurzer Zeit, keimte in ihm wieder neuer Mut. Denn egal wie schlecht die Gegenwart auch sein mochte und egal wie düster alle Prognosen waren, die Zukunft konnte seiner Meinung nach nur besser werden. Daran glaubte er fest.
Von da an vergingen die letzten Jahrzehnte des Wartens unglaublich schnell für Herrn Miroslav G., fast wie im Flug.
Einzig die lang erhoffte Zukunft ließ weiter auf sich warten. Viel zu lang ließ sie auf sich warten und war lang noch nicht in Sicht. Außerdem hatten die vielen Jahre des Wartens seine Gesundheit nachhaltig ruiniert. Ein Arzt versicherte ihm, dass, wenn er sein Warten nicht bald beenden würde, er demnächst sogar mit seinem Ableben zu rechnen hätte. Aus medizinischer Sicht lagen die Gründe hierfür auf der Hand. Ein Ableben kam aber für den Wartenden vorerst nicht infrage.
So lange wie Herr Miroslav Günther jetzt schon gewartet hatte, gab es für ihn keine andere Möglichkeit mehr als weiter zu warten. Immer weiter zu warten, auch, wenn es ihm mitunter zunehmend schwerer fiel dies zu tun.
Eisern hielt der mittlerweile tattrige Greis noch weitere zwei Jahrzehnte durch. Gebrechlich und schwach, halb blind und halb taub, ohne Zähne im Mund und ohne Haare auf dem Kopf, wartete er ohne Unterlass. Geduldig wartete er, wie man es von ihm gewohnt war.
Bis eines Tages das Schicksal seinen Lauf nahm. Das Herz des Miroslav Günther hatte den Dienst quittierte und dem Warten ein jähes Ende bereitet. Altersschwäche, mutmaßten die Mediziner und selbst die Laien.
Und weil dies nicht genug Anlass zur Trauer bot, passierte am Tag nach seinem Tod etwas, womit kaum noch einer gerechnet hatte: Die Zukunft, wie Herr Miroslav Günther sie sich immer vorgestellt und gewünscht hatte, war plötzlich gekommen.
Und sie war atemberauben. Besser als jede Gegenwart oder Vergangenheit, die beste Zukunft bis dato.
Herr Günther wurde indes auf dem Friedhof der Zukunft beerdigt.
«Tempus fugit» stand auf seinem Grabstein eingraviert und das aus gutem Grund. Auf die Zukunft kann man durchaus warten, nur sollte man recht früh damit beginnen und geduldig sein. Denn, um mit den Worten Miroslav Günthers zu schließen: Zukunft ist wahrlich eine Frage der Zeit.