Der Life Coach

Komisch, dachte ich mir, warf einen weiteren Blick auf meine Armbanduhr, um sogleich und zum wiederholten Male festzustellen, dass die Uhrzeit wohl korrekt war. Die Anzeigetafel verriet mir, dass ich mich in der richtigen U-Bahn-Linie befand, und zwar die, mit der ich üblicherweise zur Arbeit fuhr. Für gewöhnlich waren zu dieser frühen Stunde nur wenige Passagiere in der U-Bahn anzutreffen. An jenem Morgen jedoch war ich der Einzige, der mit ihr fuhr.
Seit fünf Station war keiner mehr zugestiegen und so langsam machte mir die Sache Angst.
Hatte ich vielleicht vergessen, dass heute Feiertag war? War Atomkrieg oder Zombieapokalypse und ich habe davon nichts bemerkt? War ich der einzige Überlebende? Ich und der U-Bahn-Fahrer. Die zwei letzten, die in einer nun menschenleeren Welt ihrer Pflicht nachgingen?
Dieses Alleinsein löste in mir ein ausgesprochenes Unbehagen aus. Ich wünschte mir, dass endlich jemand in die U-Bahn stieg.
Nach zwei weiteren Haltestellen ohne Fahrgäste weit und breit, war das Warten und Sehnen schließlich vorbei.
Ein mittelalter Typ in viel zu kurzem Bademantel und mit Plastiktüte auf dem Kopf betrat die Bahn. Noch bevor das Verkehrsmittel losgefahren war, hatte der Kerl bereits sichtlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
Er tat drei große schwankende Schritte und nahm dann im gleichen Moment, als wir endlich losfuhren, laut stöhnend auf der Bank mir gegenüber Platz. Viel mehr stürzte er auf das Polster, als dass er Platz nahm.
Wie er nun so vor mir auf der Bank hing, konnte ich sehen, dass der Mann wohl eine Wunde unter seiner Plastiktüte auf dem Kopf hatte. Auf der Stirn und an der linken Schläfe waren große Krusten geronnenen Blutes sichtbar.
Sein Bademantel war nicht nur zu klein, sondern Blut verschmiert und speckig. Unter dem Mantel trug er nichts außer einem ebenfalls Blut verschmierten Schlüpfer.
Auch die befleckte Unterhose war etwas zu klein geraten. Vielleicht aber sass sie nur nicht richtig. Den Eindruck bekam ich, als ich bemerkte, dass sein linker Hoden aus dem Schlüpfer lugte. Dies schien den Typen aber nicht zu stören. Er hatte andere Probleme. Gleichgewichtsprobleme. Sein Oberkörper wankte und schwankte mit jedem Ruck, der durch den Waggon ging. Just in dem Moment, als er auf mich zu fallen drohte, riss er plötzlich die Augen auf und machte den Anschein wieder hellwach zu sein.
Ein Schreck durchfuhr meinen Leib. Auf einmal wünschte ich mir wieder die menschenleere U-Bahn her. In Panik suchte ich bereits nach der Notbremse, als er mit mir zu reden begann.
«Wie wäre es mit ‘nem Bierchen?», fragte er mich lallend.
Vor lauter Angst brachte ich nur Unverständliches hervor und blieb ihm die Antwort schuldig.
«Komm’ schon! Oder haste was Besseres vor?», sprach er, blickte mir tief in die Augen und lächelte milde.
«Guck dich doch mal um! Keine Sau geht hier noch arbeiten! Alle am Pennen oder am Saufen. Komm, ich lad dich ein!», versuchte er mich zu überzeugen.
«Ich habe Geld dabei», erklärte er und begann die Taschen seines Bademantels zu durchsuchen.
Beim Kramen fielen ihm verschiedene, zusammengeknüllte Geldscheine herunter. Stöhnend bückte er sich nach den Banknoten, dabei entglitt ihm ein Darmwind, der mir umgehend in die Nase kroch und Übelkeit verursachte.
Bevor ich ein weiteres Mal nach der Notbremse Ausschau halten konnte, hatte er das Geld vom Boden aufgelesen und wedelte damit vor meinen Augen.
Wie gelähmt sass ich vor ihm, als er mich plötzlich bei der Hand nahm und mich ohne große Mühe von meinem Platz zog. Die U-Bahn war soeben an einer Haltestelle zum Stehen gekommen. Halb stürzten, halb sprangen wir aus der U-Bahn auf den Bahnsteig.
Ich wusste nicht, wie mir geschah. Bald schon hatten wir die U-Bahn-Station verlassen. Wir befanden uns in einer mir unbekannten Gegend. Noch immer hielt der Kerl meine Hand und zog mich hinter sich her.
Aus irgendeinem Grund ließ ich es geschehen. Vielleicht aus Neugier, oder weil ich unfähig war, mich zu wehren? Oder weil ich eigentlich keine Lust hatte, zur Arbeit zu gehen und sich hier gerade ein Grund ergab heute diesem verhassten Ort fernzubleiben?
Ich nahm es in Kauf.
Wenig später fanden wir uns in einer Kneipe wieder und bald schon hatte jeder ein Bier in der Hand.
Er spendierte Runde um Runde und schien mit jedem Schluck klarer zu werden.
Ich hingegen spürte bald schon einen angenehmen Schwips.
Einen leichten Rausch, der mich ermutigte, den Mann mit der Plastiktüte auf dem Kopf nach seinem Namen zu fragen.
Er zögerte nicht lang und zog eine Visitenkarte aus seiner Bademanteltasche.
«Fritz Schönau – Life Coach» stand mit goldenen Lettern auf der Karte geschrieben.
Ich zog die Augenbraue hoch und begann Herr Fritz Schönau von oben bis unten zu mustern.
«Ich brauch noch ‘nen Kompagnon. Ich will expandieren. So ‘nen Kerl wie dich kann ich gut gebrauchen. Biste dabei?», wollte er wissen, als ich ein weiteres Mal die Visitenkarte studierte.
Gute Frage, dachte ich und warf einen Blick auf meine Armbanduhr.
Jetzt noch pünktlich auf Arbeit zu erscheinen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Außerdem hatte ich bereits eine Fahne und das nicht zu knapp.
Ich musterte Herrn Schönau in seinem viel zu kleinen und Blut verschmierten Bademantel und las erneut, was auf seiner Visitenkarte stand.
«Life Coach» also.
Ich steckte mir die Karte in die Hosentasche, erhob mich von meinem Barhocker, klopfte dem Kerl mit dem Bademantel auf die Schulter und verabschiedete mich «bis bald».
Das Ganze trug sich mir vor einigen Tagen zu.
Meine Vorgesetzten hatten nur wenig Verständnis für mein unentschuldigtes Fehlen an jenem Montag, ließen aber Gnade vor Recht walten.
Bald schon war wieder alles beim Alten. Mein Alltag hatte mich zurück.
Eine Frage nur ließ mir seither keine Ruhe – hatte auch ich das Zeug zum Life Coach?
Morgen rufe ich Fritz Schönau an – ganz bestimmt!